Wenn man als Ausländer am Flughafen von El Alto auf 4000 m über dem Meeresspiegel landet und sich dann im Taxi zum ersten Mal durch die Straßen der jüngsten Stadt Boliviens drängelt, wird man wohl kaum vor Begeisterung die Kamera zücken. Unverputzte Zieglebauten ragen dicht an dicht gedrängt fünf, sechs, sieben Stockwerke hoch in die Luft, schnurgerade und breite Straßen vollgestopft mit Autos und Minibussen, schwerbeladene Menschen, die sich ihren Weg durch kleine Marktstände, Schuhputzer und den chaotischen Verkehr bahnen, streunende Hunde und ein ohrenbetäubendes Hupkonzert.
Doch wer genauer hinschaut und den Hintergrund bzw. die immense Bedeutung der Stadt El Alto für Bolivien kennen lernt, ist garantiert fasziniert.
Entstehung einer Millionenstadt in weniger als 100 Jahren
Vor hundert Jahren breitete sich auf der heutigen Fläche der Stadt nichts als die endlose Weite des Andenhochlandes aus. Die Menschen siedelten sich lediglich in der Stadt La Paz an, die in einem warmen und windgeschützten Tal liegt. Als La Paz wuchs und im Tal immer weniger Platz war, bauten die Menschen ihre Häuser immer weiter oben, bis sie schließlich begannen, auch die an La Paz angrenzende Hochebene zu besiedeln.
1925 wurde ein Militärflugplatz angelegt und in den Fünfzigerjahren wurden die dadurch angezogenen Siedler an das Wasserversorgungsnetz von La Paz angeschlossen. Jetzt verlegten auch Fabrikbesitzer, die im Tal von La Paz keine Möglichkeit zur Ausbreitung hatten, ihre Firmen in die Hochebene und die überwiegend aymarastämmige Landbevölkerung des Altiplanos verließ ihre Dörfer, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der neuen städtischen Siedlung.
Bereits 1952 machte sich die bedeutende Macht der Aymarasiedler bemerkbar. Während der Revolution besetzen sie zusammen mit aufständischen Minenarbeitern den Militärflughafen und verhinderten so eine Bombadierung der Stadt La Paz. Aufgrund der großen Landflucht im Andenhochland wuchs die Ansiedlung explosionsartig und erstritt 1988 die Anerkennung als unabhängige Stadt.
Die Bewohner von El Alto beeindrucken immer wieder durch ihren starken Zusammenhalt. So waren es hauptsächlich die Bewegungen in El Alto, die 2003 im Gaskrieg für Ihre rechte kämpften und Evo Morales, einen der ersten indigenen Präsidenten des amerikanischen Kontinents, an die Macht brachten.
Das Leben in El Alto
Heute ist die jüngste Stadt Boliviens mit ca. 1 Million Einwohner die zweitgrößte Boliviens (nach Santa Cruz). Die Menschen leben hauptsächlich von ihren kleinen unabhängigen Werkstätten, Geschäften und Minibussen, die als öffentliche Verkehrsmittel dienen. Kaum jemand arbeitet als Angestellter.
Obwohl El Alto optisch ärmlich und fast lebensfeindlich wirkt, leben hier unzählige Millionäre und Familien, die über großen Reichtum verfügen. Diese neureichen Aymara haben einen ganz eigenen architektonischen Stil entwickelt: drei bis sieben Stockwerk hohe Häuser mit schrill bunten Fasaden und Ornamenten aus der andinen Kultur. Im Erdgeschoss befindet sich ein Laden bzw. eine Werkstatt oder Garage. Im ersten Stock ist oftmals ein aufwändig gestalteter Veranstaltungsraum mit Stuck, Kronleuchtern, leuchtenden Farben und Spiegeln eingerichtet. Die folgenden Stockwerke stehen meist leer und sind als Vorsorge für Töchter und Söhne gedacht. Erst ganz oben auf dem Dach wird ein hübsches verschnörkeltes Häuschen mit Balkon und Ziegeldach erbaut. Hier wohnen die Besitzer. Ihren Reichtum bringen sie vorallem durch wertvollen Schmuck und prunkvolle Feste zum Ausdruck.
Gleichzeitig herrschen vor allem an den Randbezirken von El Alto große Missstände. Oftmals kommt die einfache Landbvevölkerug, die mit großen Hoffnungen in die Stadt umsiedelt, mit den neuen Anforderungen nicht zurecht. Ohne Schreiben und Lesen zu können müssen sie nun Arbeit finden, um ihre zahlreichen Kinder versorgen. Oftmals sind sich die Menschen nicht über hygienische Vorsichtsmaßnahmen bewusst, die in einer Stadt zu beachten sind. Krankheit, Armut, Gewalt, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit sind leider nicht selten die Folge. Zahlreiche nationale, kirchliche und internationale Hilfsorganisationen haben sich deshalb in El Alto angesiedelt.
Vorallem unter der Regierung von Evo Morales wird viel Kraft in die Verbesserung des Lebens in El Alto gesetzt. Schließlich befindet sich hier die größte Basis der neuen Bewegung hin zu selbstbestimmten indigenen Völkern in einem unabhängigen Bolivien.
Eine dynamische Stadt
El Alto – ein faszinierende Stadt, deren Einwohnerzahl sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat und deren Bevölkerung zur Hälfte unter 19 Jahre alt ist. Die erste Stadt, in der Menschen indigener Herkunft zu Millionären werden und ihre ganz eigene städtische Kultur schaffen. Eine Stadt, die sich durch den ungeheuren Zusammenhalt ihrer Bewohner landesweit politisch durchsetzt.