Tinku ist eine Jahrtausende alte Tradition aus den Anden, die in Bolivien in den Departamentos Potosi und Oruro bis heute erhalten bleibt. In der Inkasprache Quechua bedeutet Tinku "Treffen". In der Aymarasprache, die ebenso bis heute in den Anden gesprochen wird, bedeutet das Wort "körperliche Attacke".
In Zeiten lange vor der Ankunft der Spanier herrschte das Königreich Qaraqaras in diesem Teil der bolivianischen Hochanden. Die Qaraqara-Krieger waren brühmt und gefürchtet für ihre Kampfpraktiken. Wenn eine wichtige Person zu Besuch ins Königreich kam, wurden die Kriegstechniken vorgeführt. Macha war zu dieser Zeit die bevölkerungsreichste Stadt der Region und es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass diese Kriegspräsentationen der Tinku-Kämpfer dort veranstaltet wurden.
Als das Inkareich aus Cusco in die Gegend des bolivianischen Hochlands vordrängte und das Gebiet besetzte, wünschte der Inkaführer Qaraqara-Kämpfer als seine persönlichen Leibwächter. Um die besten Krieger herauszufiltern, wurden Kämpfe veranstaltet, deren Sieger zur Sicherheit des Inkaführers abgestellt wurden.
Im Laufe der Zeit wurde das Vorzeigen der Kampftechniken auch zu einer religiösen Zeremonie. Ziel war es, soviel Blut wie möglich an die Mutter Erde Pachamama zu opfern, um eine erfolgreiche Ernte zu erbitten.
Auch durfte die Gemeinde, die als Sieger aus den Konfrontationen hervorging, ein Jahr lang über die Gegend und den Zugang zum Fluss herrschen. Das Andenhochland ist trocken und Wasser ist sehr kostbar. Deshalb befanden sich die verschiedenen Gemeinden in einem ständigen Streit um den Zugang zum Fluss, der Grundlage für erfolgreichen Ackerbau darstellte.
Während der Konflikt beim Tinkukampf mit Regeln und vor Augen aller Gemeindemitglieder stattfand, führten spontane Kämpfe um Wasser bis in die Gegenwart zu Toten, die Waisen und Witwen hinterließen. Erst der Präsident Evo Morales widmete sich dem Problem im Jahre 2008. Er rief ein Projekt der Sensibilisierung ins Leben, in dem er die Landbevölkerung zum Frieden zwischen Brüdern aufrief. Um stark zu sein, müssten die Indianergemeinden zusammenhalten anstatt sich zu verfeinden.
Chocamani Francisco nahm damals an dem Kongress in Cochabamba teil, an dem alle Gemeinden der Konfliktregionen vereint wurden, um gemeinsam am Frieden zu arbeiten. Das Projekt verzeichnete großen Erfolg. Chocomani erklärt aber, dass Waisen noch immer schwerfällt, sich nicht für den Tod ihrer Väter zu rächen.
Evolution des Tinkurituals:
Heutzutage wird das Tinkuritual am 3. Mai zum katholischen Feiertag "Herr des Kreuzes" zelebriert. Wie fast alle Traditionen in Bolivien ist auch dies ein Gemisch aus altem Indianerglauben und spanischem Katholizismus. An diesem Tag wird Jesus mit einem Poncho bekleidet und mit der typischen Peitsche der Landbewohner ausgestattet, um die Macht der Ureinwohner zu präsentieren.
In den letzten Jahren hat sich die Veranstaltung zur entwickelt und Polizei sichert, dass es vor Ort zu keinen Ausschreitungen zwischen den Kämpfern kommt. Während ein Großteil der Bevölkerung inzwischen mit westlicher Mentalität den Tod von Kämpfern als Menschenrechtsverletzung verurteilt, bleiben viele Landbewohner bei ihrer andinen Weltanschauung. Derzufolge muss ein stetiger und gerechter Austausch zwischen den Menschen und der Mutter Erde Pachamama bestehen. So muss das Leben eines Mannes oder einer Frau gegen eine gute Ernte eingetauscht werden. In abgelegenen Orten wird höchstwahrscheinlich bis heute bis zum Tod gekämpft.
In den letzten Jahren haben die Bolivianer die Kultur des Tinku auch für die Welt des Karnevals entdeckt. Vor allem bei den jungen Leuten aus den Städten Potosi, Oruro und La Paz erfreut sich der verückte Tanz, der auf humoristische Weise Kampfwegungen imitiert, großer Beliebtheit. Die Kostüme sind farbenfroh und männliche Tänzer tragen die typischen Helme aus Hartleder.
Der heutige Tinku:
Das größte Tinkuereignis findet am 2. und 3. Mai in Macha statt. Aber auch kleinere Gemeinden im Departamento Oruro und im Norden Potosis treffen sich, um die uralte Zeremonie durchzuführen.
Am ersten Abend wird getanzt und das alkoholische Maisgetränk Chicha konsumiert. Die ganze Nacht feiern die Gemeinden zu traditioneller Musik, die die Männer spielen und die Frauen mit schrillem Gesang in Quechuasprache begleiten.
Erst am nächsten Tag beginnen die Kämpfe. Jeweils zwei Männer oder zwei Frauen treten in die Mitte und kämpfen mit Fäusten und Fußtritten. Zur Versorgung der Verwundeten steht eine Gruppe Frauen bereit. In der Nacht nach der Zeremonie räumen die Kämpfer auf und hinterlassen den Kampfplatz sauber und leer.
Hinter dem Wort Tinku steckt also eine ganze Welt aus Kultur, Kampf und Tanz. Ein komplexes Universum aus uraltem Glauben an die Mutter Erde vermischt mit modernen Anschauungen und Praktiken. Der Tinku ist ein weiteres Beispiel für die außergewöhnliche Vielfalt an Bräuchen Boliviens.
Quellen:
https://www.tinkus.net
https://www.pieb.org/tinkuoruro/articulos.htm
Interview mit dem Gemeindenmitglied Francisco Chocomani der Region Challapata, in der der Tinkukampf praktiziert wird.